Jacky. Eigentlich Jacqueline, aber das mag sie nicht und auf RTLII nannte sich die eine auch so… also warum nicht. Ist schließlich ziemlich viel cooler, wie sie mir erklärt, als sie mit ihrem Bärchenshirt vor mir im Bett sitzt. Es passt viel besser zu ihren 12 Jahren als Jacky… aber was weiß ich schon.
Jacky und ich, wir kennen uns schon ganz gut, immerhin ist sie nicht zum ersten Mal da. So wüst wie heute sieht sie allerdings sonst nicht aus… 12-jährigen stehen blaue Augen nicht und auch keine geschwollene Wange oder Kratzer auf den Armen. Nein, nicht das, was ihr nun denkt… keine Prügelei. Jacky hat Epilepsie und weil das bei ihr in vielerlei Hinsicht ein bisschen schwierig ist mit den Medikamenten, hat sie in der Schule einen Anfall gehabt. „So richtig einen.“ belehrt sie mich, während sie mir ihre Prellungen zur Begutachtung zeigt, aber ihre Augen schauen traurig. „Und alle haben es gesehen?“ hake ich vorsichtig nach und sie nickt. Beschämt… Kinder können so gemein sein. Psycho nennen sie sie und Spasti, dabei möchte sie doch eigentlich nur gemocht werden… vielleicht nicht die Klassenqueen, aber zumindest eine Freundin haben.
Ihre Mutter kommt ans Bett und nimmt sie in den Arm, beschützt sie vor den Worten, die Wunden schlagen können, macht, dass die Traurigkeit verschwindet…
Ach nein, doch nicht. Jackys Mutter ist nicht da. Jacky ist nämlich nicht allein zuhause. Da gibt´s noch Kevin und Justin und Chantal und Cheyenne und das Baby Jerome. Außerdem noch Lucky und Sweety, aber das sind die beiden Hunde… nicht die Geschwister. Und darum ist das mit der elterlichen Anwesenheit manchmal ein wenig… schwierig. Anfangs habe ich Jacky mal nach ihrem Vater gefragt. Der ist nicht da, hat sie nur gesagt und sonst nichts mehr. Manchmal kommt trotzdem ein Mann mit… Mamas Neuer, hat sie nur gesagt und sonst nichts mehr.
Mamas Neuer hat Jackys Mutter noch mal jung gemacht… oder wenigstens dafür gesorgt, dass sie jung sein möchte… vielleicht nicht um jeden Preis, aber doch um viel. Nun sind die Haare lila, die Kleidung von Orsay und weil Orsay kein XXXL verkauft auch um einige Nummern zu klein. Sie macht´s glücklich, Jacky nicht so sehr, aber momentan ist Mamas Neuer Nummer 1. Vor Jacky.
„Wissen se, die Jacky is echt mal so schwierig.“ hat Frau Schulte geseufzt und sich gedankenverloren den Stringtanga wieder richtig positioniert. „Ständig provoziert se und is frech zu meinem Freund.“ Kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich werfe einen kurzen Blick zu ihrem Macka hinüber. Klein, dürr, mit einem fadenscheinigen Bart, der ihn älter machen soll, als er ist… mich erinnert er an ein Wiesel. „Gar nich mehr zu gebrauchen.“ spricht Jackys Mama derweil weiter und schüttelt demonstrativ den Kopf. „Ab mittachs isse nur noch zugange. Hört gannich mehr.“ Ich seh sie an, während hinter ihr mit lautem Getöse erst ein Bauklotzturm in sich zusammen fällt und gleichzeitig lautes Geschrei los bricht, weil Chantalle Justin mit einem Holzauto auf den Kopf gehauen hat… ihr Macka steht derweil in einem Zimmereck und schaut zu, als sei das das neueste, lang erwartete Kapitel der neuen Reality-Soap auf ihrem Lieblingssender. Nur angucken, nicht eingreifen. Ich hör auch nichts mehr.
„Frau Schulte…“ sag ich betont vorsichtig. „Jacky ist ein besonderes Kind…“ „Ja, weiß ich doch.“ unterbricht sie mich und stößt mit dem Fuß den MaxiCosi an, damit Jerome-Baby wieder aufhört zu brüllen. „Wissen se, ich hab sie ja auch lieb. Aber manchma, da isses halt… schwierig.“ Sie seufzt wieder und als sie mich anblickt, schaut sie müde aus. Aber in ihren Augen liegt tatsächlich etwas, das von Wahrheit spricht… und Liebe. „Frau Schulte…“ sag ich wieder. „Wir haben die Blutwerte von Jacky bekommen und es sieht so aus, als habe sie ihre Medikamente in letzter Zeit nicht so häufig bekommen, wie sie sollte.“ „Was?“ fährt sie auf und Jerome fängt wieder an zu schreien. „Wollen se mia jetz unterstellen, ich wär zu doof, um Chantalle der ihre Tabletten zu geben?“ Ich hebe die Hände… abwehrend… und schüttele den Kopf. Sie hält inne und guckt zu ihrem Macka hinüber. „Ey, sach ma… hasse der Jacky die Tabletten gegeben?“ Er dreht den Kopf und schaut sie aus trüben, blassblauen Augen an. „Weiß ich doch nich…“ Er zuckt die Schultern.
Ich schaue ihnen zu. Es hat etwas surreales, wie sie da sitzen… stehen und drum herum das Chaos tobt. Nicht, dass ich diese Szene das erste Mal beobachtet hätte… und täglich grüßt das Murmeltier. Die letzten Male war es ähnlich. Jacky kommt herüber und nimmt wortlos das Baby aus dem MaxiCosi, das sofort aufhört zu weinen. Ganz zärtlich ist sie zu ihm, streichelt über den Kopf und geht wortlos mit ihm wieder zu ihrem Bett hinüber. „Frau Schulte…“ sage ich ein drittes Mal. „Wir müssen uns jetzt überlegen, was wir machen können. So kann das wirklich nicht mehr weiter gehen.“ „Und was wollense jetzt machen?“ fragt sie und ihre Augen werden plötzlich schmal vor Misstrauen. „Ey, nich wahr… sie wollen nicht die Heinis vom Jugendamt… nee!“ Das letzte Wort brüllt sie mir ins Gesicht und ich schaue unbeeindruckt zurück. Jetzt gilt´s. „Doch.“ „Wie könnense… sie… sie….“ Immer Stimme wird immer lauter, nur um sich am Ende zu überschlagen. „Ich hab ihnen vertraut!“
Ich schüttele den Kopf, aber irgendwo tief drinnen schmerzt es doch. „Frau Schulte, ich will ihnen ihr Kind nicht weg nehmen, aber wir müssen…“ „Jacky geht nich wech! Niemals!“ schreit sie und Jacky legt das Baby weg und kommt auf ihre Mutter zugelaufen. „Ich möchte nicht weg.“ flüstert sie und ihre Stimme bildet einen seltsamen Gegensatz zu der ihrer Mutter. „Mama… ich möchte bei dir bleiben.“ Sie schaut zu mir hoch, die Augen ganz groß und in ihnen glitzern Tränen. „Ich will nicht weg… ich will bei Mama bleiben.“ Frau Schulte zieht ihre Tochter in ihre Arme. Es ist das erste Mal, dass ich das so sehe. Jacky, die geradezu um die Zuneigung ihrer Mutter bettelt und ihre Mutter, die nicht fähig ist, ihr genau das zu geben, was sie braucht… geliebt zu werden. Manche Dinge könnten so einfach sein… und sind´s dann doch nicht.
„Frau Schulte…“ ein viertes Mal. „Das Jugendamt soll Jacky nicht weg nehmen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass das mit ihrer Krankheit klappt. Es ist gefährlich so… das sehen sie doch…?“ Eine halbe Frage, die in meinen Worten mitschwingt. Ganz so sicher bin ich mir nicht. „Nein! Nein! Nein! Niemand kommt mir in meine Wohnung. Niemand! Sie ist fuchsteufelswild mittlerweile, das Gesicht hochrot schiebt sie ihre Tochter wieder beiseite, hält dann plötzlich inne. „Was passiert, wenn ich nich zustimme?“
Ich schweige einen langen Augenblick lang. „Dann wird das Jugendamt sie ihnen weg nehmen… über kurz oder lang.“
Frau Schulte starrt mich an… lange, lange, dann geht sie wortlos davon. In meinen Ohren klingt leise Jackys Weinen. „Ich möchte nicht… bitte….“ schluchzt sie leise und schaut mich ihrem nassen Gesicht mit dem blauen Auge an.
Richtig… oder falsch? Manchmal ist es doch nicht ganz so einfach.
traurige Geschichte..ich hoffe, es geht alles gut aus
Wie kann das gut ausgehen? Ich würde sagen, richtig. Die Mama ist überfordert und für das Kind bedeutet das Gefahr. Vielleicht, wenn man zur Mutter durchdringen kann, kapiert sie, dass Kooperation zu aller Nutzen ist..
Ich habe mal ehrenamtlich in einer Kinderklinik gearbeitet und da ging mir die Geschichte von einem schwer kranken kleinen Jungen ans Herz, dessen Mama ihn nie besuchte, weil sie ihre HUNDE nicht allein lassen wollte. Sie hatte ihn quasi zum Sterben abgelegt, so unser aller Einschätzung. Er ist aber dann nicht gestorben, jedenfalls bis vor einem Jahr nicht (danach habe ich keine Infos mehr). Unfassbar. Sowas ist das wahre Leid in den Kinderkliniken…
Reblogged this on About LIFE and commented:
Weil es gerade selbst in meinem nahen Umkreis Thema ist. Und weil ich es super geschrieben finde. Weil ich möchte, dass dieses Thema mehr ins Bewusstsein rückt…
Mist.
Ich weiß nicht, wie Jacky sonst so drauf ist und wie weit man es ihr selbst überlassen könnte, ihre Medikamente zu nehmen. Das hängt sicherlich auch davon ab, wie bzw. wie regelmäßig der Tagesablauf in der Familie ist – meine 7-jährige Tochter (auch mit Epilepsie) fragt inzwischen nach Frühstück und Abendessen nach „Mediziiiin!“ Wenn Jacky nicht von zu Hause weg will, hat sie ja ein eigenes Interesse daran, die Medikamente zu nehmen – wenn Mama das einmal in der Woche mit vorbereitet, kann sie das als 12-Jährige vielleicht weitgehend selbstständig und zumindest Entzugsanfälle wie der Beschriebene fielen dann weg. Was sonst noch im Argen liegt in der Familie, weiß ich natürlich nicht.
Und ein Pflegedienst? Meine Schwiegereltern bekommen vormittags und abends Besuch vom Pflegedienst, der ihnen die Medikamente verabreicht (und sortiert und dafür sorgt, dass immer genug Medikamente da sind, d.h. Rezepte holt usw.). Zahlt die Krankenkasse, weil es die Ärztin für notwendig befunden hat (wir auch..).. Gut, das sind natürlich alte Menschen, aber ginge das nicht auch bei einem jungen Menschen, wenn es die Jugendliche und die Familie sonst nicht hinkriegen?
Richtig. Als selbstbetroffene (Epi) und Mutter eines solchen Kindes, richtig. Es ist so so wichtig das jemand hinguckt, das Medikamente gegeben werden wo sie dringend nötig sind, dass Kindern mit Epi ermöglicht wird, so normal wie eben möglich aufzuwachsen und zu normal gehört es eben auch, dass eine Mutter ihrem Kind die Medis zukommen lässt, kann sie das nicht muss man reagieren. Unserem 8 Jährigem ist es in Fleisch und Blut übergangegangen, dass er zum Frühstück eben seine Medikamente nehmen muss. Wahrscheinlich ist einfach Hilfe zum ritualisieren von Nöten…sie ist ja schon *groß*
Ach schwer..
Richtig oder falsch? … die „richtige“ Antwort wird es nicht geben. Und doch (ich war sehr viele Jahre „Notfall-Pflegemama“ in einer grossen Stadt) würde ich sehr schnell handeln. Die Gefahr ist zu gross …. das weisst Du ja. Es gibt kein „ein bisschen zu spät“ für Kinder, die Gefahr, noch dazu für ein krankes Kind ist zu riesig.
Mein inzwischen 12jähriger nimmt seine Medis von ganz allein. So sehr ist er dran gewöhnt, dass sie für ihn zum Frühstück dazugehören. Die könnte ich gar nicht vergessen weil er schon danach frägt wenn sie nicht daliegen.
Aber ich würde die Einnahme niemals ihm selbst überlassen. Kinder … keiner weiss was ihnen einfällt. Zu viel…zu wenig … auf dem Tisch liegen lassen etc. Leider muss man dort Angst haben, dass womöglich noch eines der Geschwister die Medis „erwischt“ …
Es ist ein trauriges Schicksal für das kleine Mädchen
viele Grüsse
Elisabeth
Ob es richtig oder falsch ist, kommt auf den Betrachter an. Aber auf jeden Fall nicht passiv geblieben, das ist gut! Ihr habt doch bestimmt einen Sozialdienst bei Euch im Krankenhaus, oder? Es gibt auch die Möglichkeit, nach dem neuen KJHG betitelte „insoweit erfahrene Fachkräfte“ in einem Fall um Rat zu fragen. Das sind oft Psychologen oder päd. Fachkräfte mit einer gesonderten Schulung zum Thema Kindeswohlgefährdung. Die Beratung ist Fallanonymisiert möglich und bietet eine Anlaufstelle, um sich Rat über die weitere Vorgehensweise, auch Fragestellungen etc zu holen.